„Wir werden das Versprechen erfüllen, und am 31. Oktober die EU verlassen, ohne Wenn und Aber. Und wir werden einen neuen Deal aushandeln, einen besseren Deal“, kündigt der neue britische Premierminister Boris Johnson an.
Große Worte, die von der Opposition und auch von führenden Vertretern der europäischen Wirtschaft als nicht haltbar angesehen werden – und dennoch steigt die Wahrscheinlichkeit eines No-Deal Brexit Ende Oktober.
Starke Auswirkungen schließt Johnson aus, schließlich sei Großbritannien wirtschaftlich, kulturell, bildungspolitisch etc. führend. Dem widerspricht Markus Beyrer, Generaldirektor des führenden EU-Wirtschaftsverbandes BusinessEurope in einem Statement gegenüber der Funke Mediengruppe.
Er rechnet mit „massiven Zöllen von heute auf morgen“ und konstatiert Großbritannien den Stand eines Landes mit Nicht-Status: „Es gibt kaum ein Land auf der Welt, vielleicht von Nordkorea abgesehen, das einen noch schlechteren Stand an Vereinbarungen mit der EU hätte.“
Wirtschaftliche Konsequenzen
Profitieren wird kaum jemand vom Brexit, geschweige denn vom No-Deal-Brexit. Bereits seit Jahresbeginn ist der deutsch-britische Handel laut des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) deutlich zurückgegangen. Deutsche Unternehmen exportieren von Januar bis Mai 2019 Waren im Wert von 35 Milliarden Euro nach GB – 2,3 Prozent weniger als im Vorjahr. Die Importe aus GB sanken ebenfalls, um 6,1 Prozent auf 15 Milliarden Euro, wie Die Zeit berichtete.
Europaweit betrachtet nahmen auch die Exporte aus der EU nach Großbritannien im zweiten Quartal 2019 im Vergleich zum vorherigen Quartal um 56 Prozent ab, stellte Timocom Business Analyst David Mogg fest.
Die Konsequenzen sind spürbar. Jeder achte Unternehmer plant, seine Investitionen in andere, hauptsächlich EU-Länder, zu verlagern. Zudem ist das Vereinigte Königreich bereits von Rang 5 (2017) auf Rang 7 (2019) der wichtigsten deutschen Handelspartner abgerutscht.
Großbritannien als Drittland
Nach dem No-Deal Brexit hätte das Vereinigte Königreich den Status eines Drittlandes inne.
Konkret bedeutet das für Handel und E-Commerce Zölle und Steuern, die bei grenzüberschreitenden Lieferungen zwischen EU und Großbritannien (wie in anderen Drittländern bereits der Fall) wieder anfallen. Auch Lieferzeiten können sich aufgrund von Zollformalitäten verlängern, ebenso wie Zollgebühren, die Waren künftig verteuern werden. Nicht nur B2B, auch bei B2C und in der Lieferkette fallen erhöhte Kosten an. Zudem sollten Just-in-Time-Konzepte an die längeren Lieferzeiten angepasst oder ggf. über eine Verlagerung der Produktion nachgedacht werden.
Nach einem No-Deal-Brexit entscheidet Großbritannien selbst über die Zugangsregeln für den heimischen Markt. Unternehmen sollten sich frühzeitig damit und – falls notwendig – mit neuen Zulassungsverfahren auseinandersetzen, um Produkte weiterhin regelkonform anbieten zu können.
Nach dem Brexit sind britische Gerichte nicht mehr an europäisches Recht gebunden. Bestehende Verträge sollten mit den britischen Unternehmen vorsichtshalber überprüft und gegebenenfalls deutsches Recht vereinbart werden.
Es wird auch neue Regelungen beim Datentransfer in ein Drittland geben. Laut Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) dürfen personenbezogene Daten nur in ein Drittland übermittelt werden, wenn dort ein ausreichendes Datenschutzniveau herrscht. Dies gilt nicht nur für Datentransfers zwischen Firmen, sondern ebenso für Daten, die in Clouds abgespeichert werden.
Wie konnte es so weit kommen?
In einem Referendum stimmten 51,89% der Briten vor drei Jahren für einen EU-Austritt, um wieder mehr Kontrolle und Unabhängigkeit von der EU zu gewinnen. Nach mehrmalig gescheiterten Brexit-Verhandlungen mit Johnsons Vorgängerin Theresa May, trat diese zurück und überließ einem ihrer stärksten Kritiker aus dem eigenen Lager und überzeugtem Brexit-Befürworter das Ruder. Johnson ist in der Bevölkerung nicht unumstritten – die Mehrheit der Briten hätten Konkurrenten Jeremy Hunt bevorzugt (41% vs. 29%). Dem britischen Wahlsystem geschuldet, wird der Vorsitzende der regierenden Partei automatisch Premierminister.
Somit gelang Johnson letztlich ohne Rückhalt in der Bevölkerung an den Spitzenposten und kann den Brexit so gestalten, wie er und seine Anhänger das für richtig halten – nicht zuletzt deshalb, weil er Teile seines Kabinetts, die ihm weniger gewogen sind, einfach austauscht. Seine politischen Aussagen sind geprägt von „Lügen, Übertreibungen und Fantastereien“, sein Vorgehen ein „Kamikaze-Akt“, wie Die Zeit konstatiert – und dies wird dazu führen, dass Großbritannien und voraussichtlich auch der Großteil der EU mit wirtschaftlichen Einbußen rechnen muss.